Shanghai und Umgebung, ein Reisebericht |
2016-06-19 13:31 |
Normalerweise bin ich eher der "armchair traveller", der sich lieber zu Hause mit Landkarten und fernen Ländern beschäftigt, anstatt Reisen zu unternehmen. Dass Reisen bildet, mag für Goethe in Italien zugetroffen haben. Mein Eindruck ist eher der, dass die Vielfliegerei der Leute von heute ihre Bildung nur wenig verbessert. Im Prinzip halte ich mich also physikalisch da auf, wo mich mein Fahrrad hinbringt. Der Rest der Welt wird durch das Internet mit weniger Strapazen und in höherer Informationsdichte wahrgenommen.
Für China mache ich aber eine Ausnahme. Mein Bruder wohnt seit vielen Jahren dort, und so habe ich dort Basislager, Übersetzung und Familienanschluss - alles Dinge, die beim Erkenntnisgewinn über Land und Leute sehr helfen.
Seit 2007 war ich nicht mehr da, und so war es nach 9 Jahren Pause mal wieder Zeit für die Kosten und Mühen eines Fernfluges.
Diese Mühen begannen mit einem Umweg von 7 Stunden. Da die dumme Air China und die noch dümmere Website "billigfluege.de" aufgrund ihrer vereinigten Inkompetenz und Kundenfeindlichkeit es nicht schafften, uns den Direktflug München-Shanghai zu verkaufen, führte der Weg von München nach Shanghai über Zürich-Kloten, nach einigem Aufenthalt dann fast wieder über unsere Münchner Wohnung, nur ein paar km höher in der Luft als zu Beginn der Reise.
Flughafen Zürich-Kloten am 29.5.2016
Angenehmerweise durften wir mit Swiss fliegen. Diese Fluggesellschaft scheint eine der letzten zu sein, die beim Essen noch auf Qualität Wert legt. Diesbezüglich war die Lufthansa beim Rückflug eine Enttäuschung.
Der verkehrstechnische Höhepunkt von Shanghai ist natürlich der Maglev, die derzeit größte und schnellste Magnetbahn im Produktivbetrieb weltweit.
Die meiste Zeit fährt der Maglev mit angezogener Handbremse, vermutlich aus Energiespargründen. Nur in den Stoßzeiten darf man mit 430km/h vom Flugplatz zur Longyang-Straße (龙阳路) brettern, wo man dann in eine der U-Bahn-Linien umsteigen kann. Longyang-Straße ist noch lange nicht das Stadtzentrum, aber immerhin sorgen dort inzwischen 3 U-Bahn-Linien für ein sinnvolles Weiterkommen.
2007 war das U-Bahn-Netz noch längst nicht so gut ausgebaut, damals gab es ab dem Endpunkt der Magnetbahn nur eine einzige U-Bahn-Linie.
Überhaupt rauben die Geschwindigkeit und der Umfang des Ausbaus der Metro Shanghai in den letzten 9 Jahren dem Besucher aus der Provinzstadt München den Atem. 2007 gab es ganze dreieinhalb Linien, heute sind es 15. Jede Linie hat ihre eigene Tunnelröhre. Das minimiert Weichen- und sonstige Folgestörungen, sorgt aber leider dafür, dass man beim Umsteigen gut zu Fuß sein muss. Die Zugfolge ist dicht, es gibt also nur kurze Wartezeiten.
Eine Fahrt kostet unter 1 Euro. Das ist umso bemerkenswerter, als alle anderen Preise in China nicht mehr wesentlich unter den Preisen in Deutschland liegen. Die Politik der bunten Euro-Retter, den Euro zu wertlosem Papiergeld zu machen, hat die EU-Bürger jetzt schon so weit beraubt, dass sie nicht einmal mehr gegenüber Chinesen einen Kaufkraftvorteil haben. Das war 2007, vor Beginn der sogenannten Euro-Rettung, noch deutlich anders. Damals fühlte man sich in China noch wie ein BRD-Bürger 1980 in Südeuropa.
Die U-Bahnhöfe liegen weit auseinander, damit die ganze 20-Millionen-Stadt in halbwegs erträglicher Fahrzeit durchquert werden kann. Der Anspruch "fußläufige Erreichbarkeit" wird vom Stationsnetz der Metro Shanghai außerhalb des Stadtzentrums klein geschrieben. Die Erschließung der äußeren Stadtteile erfolgt mit den zahlreich vorhandenen Taxis. 2007 gab es noch vereinzelt Motorrad-Rikschas, diese sind heute ausgestorben. Vorherrschend sind VW-Modelle, bis runter zu schrottigen VW Santanas aus den 1980ern. Daneben gibt es noch einige Hyundai- und Kia-Taxis. Die Privatfahrer-Vermittlung "Über" gibt es in China auch, nur muss man, um sie zu nutzen, Chinesisch sprechen. So gut wie niemand spricht Englisch in China! Für die offiziellen Taxis reicht es aber, den Zielort auf chinesisch angeben zu können, oder ihn auf einem Zettel oder auf dem Handy vorzuweisen. Die perfekte Ortskenntnis der Shanghaier Taxler erledigt dann den Rest. Noch einfacher wird es, wenn man einfach zur nächsten U-Bahn will: Wer es schafft, åœ°é“ (dì tiÄ›) rauszuwürgen, wird zur nächsten Haltestelle gefahren. Es gibt keine Kriminalität, keinen Beschiss, es wird noch nicht mal Trinkgeld gegeben. Der offizielle Preis ist der Preis - pro Fahrt wenige Euro, ich schätze mal 0,7 EUR/km. Insgesamt ist der billige öffentliche Verkehr für Einheimische wie für Touristen die angenehmste Hinterlassenschaft des Kommunismus.
Im Straßenbild von Shanghai haben Wohlstand und die Verdrängung der ärmeren Bürger in den letzten 9 Jahren ihre Spuren hinterlassen. Mehr Autos, nur noch wenige Roller (meist Elektroroller) und fast überhaupt keine Fahrräder mehr. Die überall noch vorhandenen großzügigen Zweiradspuren, an denen der ADFC seine helle Freude hätte, sind längst nicht mehr so voll wie 2007 und werden, wo immer möglich, von den Autos in Beschlag genommen. Die Gefährdung der verbliebenen Roller- und Fahrradfahrer hat gewaltig zugenommen. Dass sich unter den Autos mehr und mehr übermotorisierte Zeitzeugnisse wie westliche, insbes. deutsche "Geländewagen" befinden, erschwert den Normalbürgern das Überleben zusätzlich.
Abgerundet wird das erste oberflächliche Bild durch einen weiteren Eindruck: Die Einwohner von Shanghai sind in den letzten 9 Jahren gefühlt 9 Jahre älter geworden. Und sie sind - wegen der Aufgabe des Radfahrens? - deutlich fetter geworden. Nur die wenigen jungen Frauen sind noch so schlank, wie es in meiner Erinnerung früher fast alle Leute waren. Traurigerweise gibt es nun auch fette Kinder und Jugendliche.
Auf zu Brüderchen, in eine Wohnanlage, in der viele Neureiche und Westler wohnen. Die Immobilienpreise und Mieten sind irrsinnig. Eine mittelmäßig schäbige Wohnung kostet 1,5 Mio Euro und dafür erwirbt man noch nicht einmal einen echten Eigentumstitel im rechtsstaatlichen Sinne, sondern nur eine Art verkrüppeltes Erbbaurecht von sozialistischen Gnaden. Eine Monatsmiete für besagte leicht schäbige Wohnung kostet EUR 2.000,-. Wer das nicht von der Firma bezahlt bekommt, kann auch als Westler mit normalem Verdienst nicht in Shanghai existieren.
Blick auf Pudong. Bei gutem Wetter und wenig Smog kann man in 8km Entfernung die vier signifikanten Hochhäuser von Pudong sehen:
1 = Shanghai Center, 2 = Shanghai Financial Center, 3 = Jin Mao Tower, 4 = Pearl Tower.
Die Wohnanlagen sind alle mit Mauern umgeben und Angestellte der Wohnungsverwaltung "bewachen" alle Ein- und Ausgänge. Leider ist damit fast keine Sicherheitsfunktion verbunden, weil niemand wirklich kontrolliert wird. Die "gated community" wird nur aus optischen Gründen und zur Rechtfertigung der hohen Preise imitiert.
Nun kommen einige Fotos aus Shanghai selbst. Den Anfang machen 2 Bilder aus dem Jing-An-Tempel, der von allen Tempeln, die es in Shanghai noch gibt, den Touristen am meisten ans Herz gelegt wird. Es gibt besinnlichere Tempelanlagen, dennoch ist der Jing-An immer noch ein Ort der Ruhe und ein Kontrapunkt zu Hochhäusern und Straßenverkehr. Die Bilder haben das (zufällig, ich bin der mieseste Fotograf Eurasiens) recht gut eingefangen.
Die hohe Metallkonstruktion auf dem letzten Bild rechts ist eine Art Opferstock. Betende und Touristen schmeißen hier Münzen rein. Das ist ein ziemliches Gaudium, weil sich die Öffnung, die es zu treffen gilt, in 4m Höhe befindet.
Die zwei kleinen überdachten Metallkisten links davon sind mit Sand gefüllt, in den Tempelbesucher ihre Räucherstäbchen stecken und fertigräuchern lassen können. Es gibt etliche Einheimische, auch Jüngere, die noch Tempel besuchen um dort zu beten, und sich dabei von den Touristen möglichst wenig stören lassen. Gemessen an der Gesamteinwohnerzahl von Shanghai sind es natürlich verschwindend wenige.
Ein Muss für Touristen ist der Yu Yuan (Yu-Garten, 豫å›). Wenn man das Gedrängel rund um den Eingang überlebt hat, eröffnet sich hier tatsächlich auf kleinstem Raum eine ganze Welt von asiatischem Gartenbau. Die Anlage ist so kleinräumig und vielfältig angelegt, dass man nach jeder Biegung wieder mit dem Garten "allein" ist, obwohl sich Massen von Touristen in ihm aufhalten.
Unsere chinesischen Verwandten hatten uns vom Yu Yuan regelrecht abgeraten, aber er hat uns mitsamt den Kindern sehr gut gefallen. OK, es war ein normaler Wochentag...
Nur wenige Schritte abseits der Touristenpfade findet man immer noch ärmere Stadtviertel, die von der ansonsten im gaanz großen Stil betriebenen Stadtplanung in Ruhe gelassen oder einfach übersehen worden sind. Die Bebauung besteht dann oft nur aus 2 Stockwerken. Die Erdgeschosse sind dann immer Läden, die zur Straße hin komplett offen sind. Darin halten sich die Bewohner die meiste Zeit auf. An heißen Tagen schlafen sie oft auf Stühlen auf dem Gehweg.
Die Läden, meist Imbisse mit fragwürdiger Hygiene, sind wenig lukrativ und sichern ihren Betreibern gerade mal die Existenz. Die Miete für diese Immobilien dürfte noch aus kommunistischen Zeiten stammen.
Auf Höhe des ersten Stockwerks zieht sich ein Gewirr von elektrischen Leitungen über alle Fassaden sowie quer über die Straße. Manchmal hängen diese Leitungen so niedrig, dass man sie per Strecksprung berühren könnte. Das ist für den TÜV-verwöhnten Besucher nicht sehr beruhigend.
In Shanghai selbst ist das folgende ein seltenes Bild geworden: Frische Wasserschlangen (ca. 30cm lang) aus dem Plastikeimer, lecker lecker, bardzo smaczny.
Direkt daneben konnte man die frisch filetierten Wasserschlangen in Pfannkuchen eingerollt käuflich erwerben. So viel Mut haben wir aber nicht aufgebracht, obwohl es dieser Spezialität nicht an Frische gefehlt hätte.
Wenige Meter neben den ärmlichen Ladenstraßen findet sich am "Suzhou-Creek" wieder moderner Städtebau.
Bis vor kurzem war der Suzhou-Creek noch eine stinkende Abwasserrinne. Nun ist er komplett saniert und lädt zum Spazierengehen ein - wozu Chinesen aber weder Zeit noch Lust haben.
Alle Fotos aus Shanghai, mit denen man anlässlich jeden Asienbezugs belästigt wird, enthalten das Hochhaus-Ensemble von 浦东 (Pudong), genauer gesagt von 陆家嘴 (Lujiazui). Pudong ("östlich des (Huang)-Pu") ist ein riesengroßer Stadtteil, der flächenmäßig ein Drittel des gesamten Bezirks Shanghai umfasst.
Sehr empfehlenswert sind Schifffahrten aller Art auf dem Huangpu. Nicht nur hat man von hier aus perfekte Blicke auf den Bund und auf Lujiazui, auch kann man auf dem Fluss angenehmerweise dem schwülen Klima entkommen. Die Billigvariante ist, einfach eine der Fähren zu nehmen, die Teil des öffentlichen Verkehrs sind. Sie kosten unter EUR 2,- pro Überfahrt. Früher waren sie vollgestopft mit Fahrrädern, aber seit die Bürger von Shanghai nicht mehr radfahren, sind die Fähren nur noch schwach besetzt. Drastisch teurer sind die Kreuzfahrten für Touristen. Wir haben für eine Stunde EUR 18,- bezahlt. Diskutabel ist das nur dadurch, dass in China per Gesetz Kinder überall freien Eintritt erhalten müssen. (Aha! Der Ex-AfD-ler in mir erkennt eine gewisse Vorbildfunktion!) Die EUR 18,- verstehen sich also "nur" pro Erwachsenem.
Hier kommen die Eindrücke vom Fluss aus.
Hochhaus-Ensemble von Lujiazui
Das russische Segelschulschiff Nadeshda zu Gast im Huangpu
Im Huangpu, wie auch im übrigen Fluss- und Kanalnetz der Region, findet eine rege Binnenschifffahrt statt. China ist traditionell stolz auf sein Jahrtausende altes, gut ausgebautes Kanalnetz und nutzt es bis heute. Dafür findet man deutlich weniger Güterzüge und Lkw, als man es in einem Wirtschaftsraum dieser Größenordnung als Europäer erwartet.
Die Qin (sprich "Tschin" oder "Tchin"), von denen China seinen (westlichen!) Namen hat, zeichneten sich gegenüber ihren damaligen Konkurrenten im Kanalbau aus - so der chinesische Staatsgründungsmythos.
Schrägkabelbrücke über den Huangpu
Der Bund. Es gibt im Internet bessere Bilder.
Mündung des Suzhou-Creek in den Huangpu
So sehen die Hochhäuser von Lujiazui von Norden aus.
2007 war der Jin-Mao-Tower (Nr. 2) das höchste Haus von Shanghai. Bereits im Bau war damals das Shanghai Financial Center (Nr. 1), das zum höchsten Haus Asiens werden sollte. Als die Provinzregierung von Shanghai diesen Rekord mit dem Shanghai Center (Nr. 3) ein weiteres Mal toppen wollte, schritt die düpierte Zentralregierung ein. Aus Brandschutzgründen(??!!) darf das eigentlich fertige Gebäude bis heute nicht der Öffentlichkeit übergeben werden.
Vor kurzem stürzte eine Glasplatte aus der Fassade des Shanghai Center auf die Straße und demolierte dabei ein Taxi total. Gottseidank wurde dabei niemand verletzt. Diese Unfälle kommen dank des heutigen weltweiten Irreseins von Städtebauern und Architekten ("modern = Glasfassade, uga uga hurgh!") immer wieder vor.
Der poppigste und meistfotografierte Teilnehmer am Hochhausreigen ist schließlich der "Pearl Tower" (Nr. 4), der als einziger noch dem alten weltweiten Paradigma vom Fernsehturm folgt. Er steht etwas abseits des Dreier-Ensembles, dafür aber direkt am Fluss, was ihn größer und prominenter erscheinen lässt, als er ist.
Bei der Gelegenheit kommt hier noch der Blick vom Financial Center, dem Flaschenöffner-Haus:
Die gleiche Stelle im Querriegel des Flaschenöffners, nun mit unserer lustigen kleinen Reisegruppe. :-)
Mit dem nachgebauten ICE kann man mit bis zu 350km/h in nur einer Stunde von Shanghai nach Hangzhou (æå·ž) rasen. Die Schnellfahrstrecke verläuft komplett auf Betonstelzen. Dieses ganze Land ist eine einzige Betonpumpe! Für den Touristen bietet das den Vorteil, dass er aus den Eisenbahnzügen immer gute Aussicht über die ganze Landschaft hat.
Das nette chinesische Städtchen Hangzhou ist nur so groß wie Berlin und bietet eines der beliebtesten innerchinesischen Tourismus-Ziele: Den Westsee.
Die ganze Küstenregion ist so flach, dass der Unterschied von Wasser und Land fast überall nur eine Spatentiefe beträgt. Das erklärt, warum Kanalbau von Menschenhand in der Antike überhaupt technisch möglich war und es erklärt auch die Entstehung des Westsees: Dieser wurde nämlich größtenteils künstlich angelegt, für die Freizeitgestaltung des damaligen Kaisers.
Seither ist der Westsee nicht nur bei der nationalen Propaganda, sondern auch bei Inlandtouristen, insbesondere bei Hochzeitspaaren, sehr beliebt.
Auf der 1-Yuan-Banknote sind steinerne Artefakte abgebildet, die einst als Pegel und als Fackelhalter (für die kaiserlichen nächtlichen Bootfahrten) gleichzeitig dienten und noch heute an Ort und Stelle im See stehen.
Wir ließen uns sehr gemütlich zu diesen historischen Steinen paddeln. Die Boote, die den Touristen dafür inklusive Bootsführer zur Verfügung stehen, sind überdacht und fassen 4-6 Personen. Sie haben nur ein einziges Ruder, das am Heck des Bootes hin und her bewegt und dabei gedreht wird. Auf diese Weise kann der Bootsführer im Stehen gleichzeitig lenken, Vortrieb leisten und die Übersicht behalten.
Eine zweite Möglichkeit, den Westsee in Ruhe kennenzulernen, ist das Fahrrad. Auch in Hangzhou fährt kaum noch ein Chinese Rad. Man will ja nicht als arm gelten! Von Touristen ist aber bekannt, dass sie nicht arm sind, ergo können sie sich ohne Gesichtsverlust in den Sattel eines der zahlreichen Mieträder schwingen. Und für Westler gilt, dass sie eh schon Spinner sind, egal was sie tun.
Mit etwas Mühe trieben wir Räder mit Kindersitzen auf und preschten los.
Blick vom Nord-Süd-Damm
Diesen Blick hat man nur, wenn man sich auf den Nord-Süd-Damm begibt, der den gesamten See teilt. Er ist so schmal, dass er keine Auto-Fahrspuren hergibt, und damit autofrei. Nur extraschmale, batteriebetriebene Touristen-Minibusse mischen ohne Rücksicht auf gegnerische Verluste den Fahrrad- und Fußgängerstrom auf.
Der Damm ist an einigen Stellen von Durchlässen für die einst kaiserlichen und heute profanen Boote durchbrochen. Die Brücklein über diese Durchlässe haben recht steile Auffahrtsrampen, so dass man mit dem Eingangrad etwas Anlauf nehmen muss, wenn man gegenüber den Elektrokarren im Vorteil bleiben will.
Bei aller Idylle aus See, Tempelchen, Parks, Inseln und Dämmen darf man nicht vergessen, dass man sich immer noch nahe des Zentrums einer Millionenstadt befindet. Das Seeufer ist mit Ausnahme der 2 Dämme (außer dem Nord-Süd-Damm git es noch einen zweiten, kürzeren und weniger attraktiven) für Radfahrer gesperrt.
In der Hauptreisezeit ist das sicher sinnvoll, weil sich dann gefühlt eine Milliarde Chinesen um den nur wenige km durchmessenden Westsee drängelt. Jetzt, im Frühsommer, war die Touristendichte gering und sehr angenehm. Leider ist der Uferweg auch jetzt streng bewacht! Will man also den ganzen See per Rad umrunden, sieht man ihn die meiste Zeit nur durch Bebauungslücken und nimmt am stinknormalen Großstadtstraßenverkehr teil.
Was soll's, kein Problem für unsereins...
Der bekannteste Aussichtspunkt über den gesamten See ist die Rekonstruktion der Leifeng-Pagode (雷峰夕照).
Leifeng-Pagode von innen
Die Überreste der alten Leifeng-Pagode (10.Jhdt.) sind eine der Stellen, die von Touristen mit Geld beworfen werden müssen, Heilkraft usw.
Darüber erhebt sich die Stahlkonstruktion der heute sichtbaren Pagode (21.Jhdt.), die man mit Rolltreppe und Lift erklimmen kann:
Direkt unterhalb der Leifeng-Pagode sieht man eine schmucke Hotelanlage. Wem mag dieses Filetgrundstück wohl gehören? Wer sind die Glücklichen, die im Zentrum des touristischen Zentrums von ganz China logieren dürfen? Nicht lange, und man sieht Männer durch die Anlage laufen - im Gleichschritt und in Uniform. Die chinesische Armee kümmert sich gut um ihre Offiziere.
Eine weitere Seltsamkeit fanden wir während unserer See-Umrundung: Den Merkelpark. Auf der seeabgewandten Seite der Uferstraße erscheint ein riesenhaftes Portal. Dahinter gelangt man über eine Brücke in einen wiederum riesengroßen Park, der teilweise sehr westlich anmutet. Andere Parkteile wirken wiederum asiatisch, dann wieder britisch-kolonial. Historisch ist hier nichts, auch wenn es alles sehr schön anzusehen ist. (Die Frauenstatuen sind weniger nach römischen, sondern eher nach Playboy-Vorbildern modelliert.) Trotz der aufwändigen Gestaltung der gesamten Landschaft ist kaum ein Mensch zu sehen, erst recht keine Reisegruppen. Vereinzelt wird in diesem Park an Gebäuden herumgewerkt. Eine Propagandatafel löst das Rätsel auf: Ganz China freut sich hier auf den G20-Gipfel, der im September nach Hangzhou kommt. In diesem Park sollen also Obama, Merkel und ihre Kollegen demnächst lustwandeln und bedeutungsvolle Gespräche führen. Tja Frau Merkel, wir waren vorher da. In your face!
Verwunschener See im Merkelpark. Ein Frosch usw.
In der flachen Landschaft der Küstenregion gibt es für den Besucher mehrere "Wasserdörfer" zu bestaunen. Das waren bis vor kurzem ganz normale Ortschaften, in denen die Flachheit des Geländes dazu genutzt wurde, bis fast an jedes einelne Haus kleine Kanäle zu legen. Abwasserentsorgung, Bootsverkehr und Fischfang standen so der Bevölkerung zur Verfügung. Diese Funktionen spielen heute in den touristisch genutzten Wasserdörfern fast keine Rolle mehr.
Angler in Wuzhen
Eines der bekanntesten Wasserdörfer, in diesem Fall eine Stadt, ist Wuzhen, das man von Hangzhou oder Shanghai aus leicht erreichen kann. Diese gute Erreichbarkeit kam nicht nur uns, sondern auch ein paar gefühlten Millionen von Inlandstouristen zugute, die einen chinesischen Feiertag mit verlängertem Wochenende ebendort verbrachten.
Touristenboote
Mehr Touristen.
Alte Kleinstadtstraße in Wuzhen, voll mit Touristen
Abends ist es in Wuzhen besonders romantisch und das Touristengedrängel erreicht seinen Höhepunkt:
Was wird man wohl außerhalb der umzäunten und eintrittspflichtigen Touristenzone zu sehen bekommen?
Wuzhen ist so weit von den Großstädten entfernt, dass es von Landflucht betroffen scheint. Die älteren Häuser sind oft unbewohnt, manchmal sind es schon Ruinen. Wenn ein Haus bewohnt ist, dann von Familien aus vielen alten Leuten und nur wenig Nachwuchs. Die erst kürzlich erfolgte Aufhebung der 1-Kind-Politik kommt für viele Familien in China zu spät. Unrealistische Vorstellungen von Partnerschaft, die das Fernsehen vermittelt, sowie Männerüberschuss verschärfen das Problem zusätzlich. China steht der gleiche demografische Absturz bevor, wie Deutschland ihn (abzüglich Einwanderung) schon hat, und in Orten wie Wuzhen kann man ihn schon erahnen.
Wohnhäuser am Fluss in Wuzhen
Straßenszene in Wuzhen. Für asiatische Verhältnisse ist hier nichts los. Zurück also nach Shanghai.
Im äußersten Südosten von Shanghai befindet sich die Retortenstadt am Dishui-See. Aus Shanghai fährt man eine volle Stunde mit der S-Bahn hierher. Auch diese Bahn verläuft fast komplett als Hochbahn auf einer aufgeständerten Trasse.
Ein künstlicher, kreisrunder See mit 3km Durchmesser bildet das Entwicklungszentrum des ambitionierten Städtebauprojekts. Darum herum findet sich ein Netz aus Bürohäusern, in denen kein Betrieb ist und achtspurigen Straßen, auf denen keiner fährt. Man kann dem Projekt nur wünschen, dass es so weit von Shanghai entfernt seine Bevölkerung noch findet.
Hier ist die Stadtregierung zu Hause:
Die große Überschrift, unter der die neue Stadt am Dishui-See steht, lautet "Internationale Schifffahrt!". Die Verwaltung der chinesischen zivilen Schifffahrts-Aktivitäten und -Regulierungen soll in diese Stadt umziehen und dort für Leben sorgen. Bisher ist das allenfalls in Anfängen passiert.
Einer dieser Anfänge ist so unfreiwillig sozialistisch-komisch, dass wir ihn unbedingt eigens besichtigen mussten: Das "China Maritime Museum" (i.F. CMM). Äußerlich sieht es so aus, als würde ausgerechnet im fernen China noch der Geist des NS-Architekten Albert Speer umgehen:
Angesichts der totalen Menschenleere rund um das riesenhafte Gebäude dachte ich schon, dass wir die einzigen Besucher werden. Ganz so krass war es dann nicht. Außer uns waren insgesamt vielleicht ein Dutzend Menschen da, die keine Museumsangestellten waren. Diese Angestellten wiederum waren halbtot vor Langeweile. Die Kartenabreißer stürzten sich auf uns, wie ein Adler auf seine Beute: Endlich Bewegung! So geht's, wenn man die hochbezahlte Langeweile des Staatsdienstes der Unsicherheit in der freien Wirtschaft (auch als "Freiheit" bekannt) vorzieht. Von mir also kein Mitleid. Die Erinnerung an Chinesen, die sich in Miniläden und Imbissen tummeln, und dabei fröhlich sind, ist noch zu frisch.
Innerhalb des Gebäudes könnte nun eine Vielzahl von Exponaten behaust werden. Aber nein, im Wesentlichen wird nur eine Sache ausgestellt: Ein Nachbau der Dschunke des teilweise sagenhaften Zheng He. Zheng He war nicht nur im 15. Jahrhundert ein bedeutender Seefahrt-Pionier, er ist auch heute eine zentrale Figur in chinesischem Nationalbewusstsein und Propaganda. Es gibt Chinesen, die wissen, dass Zheng He nicht nur vor Kolumbus in Amerika war, sondern darüberhinaus auch Australien und gar die Antarktis erreicht hat. Historiker sprechen eher von Indonesien, Indien, Arabien und Ostafrika - was auch schon sehr bemerkenswert ist und den Grundstein für eine Weltmacht China hätte legen können, wenn die damaligen Kaiser nicht das Interesse an solchen Fahrten verloren hätten.
Ich bin kein Seefahrt-Profi, aber der Nachbau im CMM scheint mir stark phantasiebasiert zu sein. Die Segelfläche ist winzig, ein Kiel kaum vorhanden, es gibt zwar Ruder, aber viel zu wenige und zu klein. Der Umstand, dass Zheng He auf dem Weltmeer klugerweise stets mit einer Vielzahl von Schiffen unterwegs war, ist komplett unberücksichtigt.
Um das zentrale nationale Monument herum finden sich einige Schiffsmodelle. Ein echtes "Schiff" gibt es auch: Ein kleines Plastikboot, welches anlässlich der Expo 2010 auf dem Huangpu als Fahnenträger diente, steht da. Das oberste Stockwerk des Gebäudes ist dann komplett leer.
Das CMM hat sogar einen Zugang zum Wasser. Nur scheint die Idee, ausgerechnet ein Schiff hierher ans Schiffmuseum fahren zu lassen, den staatlichen Museumsplanern zu abwegig gewesen zu sein. Auch hier also kein Schiff.
Wenn man nach dem CMM urteilte, dann wäre China eine große Seefahrernation wie Bolivien oder Österreich. Das ist schade, denn in Wirklichkeit spielt die Seeschiffahrt in und um China sehr wohl eine große Rolle. Jeder weiß, dass China der größte Güterexporteur der Welt ist und dass sich dieser Export hauptsächlich über die Hochseeschifffahrt abspielt. Die chinesischen Werften sind Weltmarktführer und die Reederei COSCO ist eine der größten der Welt.
Nur wenige Kilometer von hier findet sich ein weiteres offensichtliches Beispiel für die tatsächliche Größe der chinesischen Seefahrt: Der Tiefwasserhafen von Yangshan.
Modell von Yangshan im CMM, hier komplett aus dem Zusammenhang gerissen.
Yangshan (æ´‹å±±) war mal eine Handvoll kleiner Felseninseln im Pazifik, ca. 30km von der Küste entfernt. Die Felsen sind auch heute sehr schön um darauf herumzukrabbeln und den Blick auf das Meer zu genießen. Sie sind auch für Touristen gut zugänglich gemacht.
Zwischen den Felseninseln ist nun Land aufgeschüttet und weitläufige Hafenanlagen sind entstanden.
Zur Hafeninsel Yangshan fährt man nicht mit dem Schiff, sondern mit dem Auto. Eine 30km lange Hochbrücke, aus deren Beton man einen mittelgroßen Asteroiden formen könnte, verbindet die einst idyllische Pazifikinsel mit dem Festland. Auf den vier bis sechs Fahrspuren dieser Brücke sollte sich laut Planung wohl eine einzige Schlange von Lastwagen reihen, davon ist heute aber nichts zu sehen. Entweder wird der ganze Feeder-Verkehr von und nach Yangshan durch die Binnen- und Küstenschiffe erledigt, oder das ganze Projekt ist eine Fehlinvestition.
Heimreise. Die erste Etappe nach Frankfurt wurde dabei in einem A380 der Lufthansa zurückgelegt. Mäßiges Essen, aber tolles Flugzeug. Der Flughafen Shanghai-Pudong (PVG) liegt direkt am Meer. Der blaue Streifen im Hintergrund ist also tatsächlich der Pazifik.
Schade, dass man nicht immer Urlaub haben kann. Es gäbe noch viel zu sehen.
* * *
Danke, Herr Schmude, für diese frische Beschreibung des Lebens in Shanghai und Umgebung. War schon lange nicht mehr dort. High Light in den späten 70er- bzw. frühen 80er-Jahren war das Peace Hotel am Bund, mit den "Old Guys", einer Jazzband von Rentnern, welche diese Kunst wohl schon vor der Revolution gelernt hatten. Atmosphäre wie im Film Casablanca, mit "Gestrandenden" (Expatriots)aus aller Herren Länder. War damals verdammt schwer ein vernünftiges Hotel zu finden.
Eigene Tradition nach regelmäßigen Chinareisen und Empfehlung: Zur Vorbeugung gegen heftige Entzugserscheinungen: Chinesischer Feuertopf bei Fire Dragon in der Paul Heyse Straße. Kürzlicher Kommentar meiner chinesischen Frau, weil überdurchschnittlich viele Deutsche Gäste anwesend waren: "Heute sind aber viele Ausländer da!"
Nächste Chinareise unbedingt nach Qingdao mit seinen gepflegten baulichen und alkoholischen (TsinTao-Bier)Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit. Es gibt nur gute Erinnerungen und der Stolz ein bisschen deutscher zu sein als der Rest. Ja, das gibt`s noch - in China!
Wow, da habt ihr ja einiges gesehen! Wir haben es immer noch nicht nach Japan geschafft, das Geld ging immer irgendwie anders weg. Aber ich muss wohl doch noch eine Fernreise planen!
Lieber Fritz,
ein schöner, informativer mit ziemlichem Aufwand verbundener Bericht.
Danke.
Viele Grüße
Johann Vetter
Fantastisch! Tolle Beschreibung, vielen Dank dafür!!!!
Lieber Fritz, danke für diesen schönen, ausführlichen und interessanten Bericht! Ich fürchte, China wird noch länger auf mich warten müssen :-( Ver
Hallo Fritz, danke fuer den Bericht. So muessen wir uns wohl endgueltig von der romantischen Vorstellung des stets radelnden Chinesen verabschieden, und uns eingestehen: sie haben's nie wirklich aus Begeisterung getan, sondern einzig und allein aus Not.
Gudrun, unser Haus steht Euch offen!
6 Kommentare.
Mein Kommentar dazu:
Für China mache ich aber eine Ausnahme. Mein Bruder wohnt seit vielen Jahren dort, und so habe ich dort Basislager, Übersetzung und Familienanschluss - alles Dinge, die beim Erkenntnisgewinn über Land und Leute sehr helfen.
Seit 2007 war ich nicht mehr da, und so war es nach 9 Jahren Pause mal wieder Zeit für die Kosten und Mühen eines Fernfluges.
Diese Mühen begannen mit einem Umweg von 7 Stunden. Da die dumme Air China und die noch dümmere Website "billigfluege.de" aufgrund ihrer vereinigten Inkompetenz und Kundenfeindlichkeit es nicht schafften, uns den Direktflug München-Shanghai zu verkaufen, führte der Weg von München nach Shanghai über Zürich-Kloten, nach einigem Aufenthalt dann fast wieder über unsere Münchner Wohnung, nur ein paar km höher in der Luft als zu Beginn der Reise.
Flughafen Zürich-Kloten am 29.5.2016
Angenehmerweise durften wir mit Swiss fliegen. Diese Fluggesellschaft scheint eine der letzten zu sein, die beim Essen noch auf Qualität Wert legt. Diesbezüglich war die Lufthansa beim Rückflug eine Enttäuschung.
Der verkehrstechnische Höhepunkt von Shanghai ist natürlich der Maglev, die derzeit größte und schnellste Magnetbahn im Produktivbetrieb weltweit.
Die meiste Zeit fährt der Maglev mit angezogener Handbremse, vermutlich aus Energiespargründen. Nur in den Stoßzeiten darf man mit 430km/h vom Flugplatz zur Longyang-Straße (龙阳路) brettern, wo man dann in eine der U-Bahn-Linien umsteigen kann. Longyang-Straße ist noch lange nicht das Stadtzentrum, aber immerhin sorgen dort inzwischen 3 U-Bahn-Linien für ein sinnvolles Weiterkommen.
2007 war das U-Bahn-Netz noch längst nicht so gut ausgebaut, damals gab es ab dem Endpunkt der Magnetbahn nur eine einzige U-Bahn-Linie.
Überhaupt rauben die Geschwindigkeit und der Umfang des Ausbaus der Metro Shanghai in den letzten 9 Jahren dem Besucher aus der Provinzstadt München den Atem. 2007 gab es ganze dreieinhalb Linien, heute sind es 15. Jede Linie hat ihre eigene Tunnelröhre. Das minimiert Weichen- und sonstige Folgestörungen, sorgt aber leider dafür, dass man beim Umsteigen gut zu Fuß sein muss. Die Zugfolge ist dicht, es gibt also nur kurze Wartezeiten.
Eine Fahrt kostet unter 1 Euro. Das ist umso bemerkenswerter, als alle anderen Preise in China nicht mehr wesentlich unter den Preisen in Deutschland liegen. Die Politik der bunten Euro-Retter, den Euro zu wertlosem Papiergeld zu machen, hat die EU-Bürger jetzt schon so weit beraubt, dass sie nicht einmal mehr gegenüber Chinesen einen Kaufkraftvorteil haben. Das war 2007, vor Beginn der sogenannten Euro-Rettung, noch deutlich anders. Damals fühlte man sich in China noch wie ein BRD-Bürger 1980 in Südeuropa.
Die U-Bahnhöfe liegen weit auseinander, damit die ganze 20-Millionen-Stadt in halbwegs erträglicher Fahrzeit durchquert werden kann. Der Anspruch "fußläufige Erreichbarkeit" wird vom Stationsnetz der Metro Shanghai außerhalb des Stadtzentrums klein geschrieben. Die Erschließung der äußeren Stadtteile erfolgt mit den zahlreich vorhandenen Taxis. 2007 gab es noch vereinzelt Motorrad-Rikschas, diese sind heute ausgestorben. Vorherrschend sind VW-Modelle, bis runter zu schrottigen VW Santanas aus den 1980ern. Daneben gibt es noch einige Hyundai- und Kia-Taxis. Die Privatfahrer-Vermittlung "Über" gibt es in China auch, nur muss man, um sie zu nutzen, Chinesisch sprechen. So gut wie niemand spricht Englisch in China! Für die offiziellen Taxis reicht es aber, den Zielort auf chinesisch angeben zu können, oder ihn auf einem Zettel oder auf dem Handy vorzuweisen. Die perfekte Ortskenntnis der Shanghaier Taxler erledigt dann den Rest. Noch einfacher wird es, wenn man einfach zur nächsten U-Bahn will: Wer es schafft, åœ°é“ (dì tiÄ›) rauszuwürgen, wird zur nächsten Haltestelle gefahren. Es gibt keine Kriminalität, keinen Beschiss, es wird noch nicht mal Trinkgeld gegeben. Der offizielle Preis ist der Preis - pro Fahrt wenige Euro, ich schätze mal 0,7 EUR/km. Insgesamt ist der billige öffentliche Verkehr für Einheimische wie für Touristen die angenehmste Hinterlassenschaft des Kommunismus.
Im Straßenbild von Shanghai haben Wohlstand und die Verdrängung der ärmeren Bürger in den letzten 9 Jahren ihre Spuren hinterlassen. Mehr Autos, nur noch wenige Roller (meist Elektroroller) und fast überhaupt keine Fahrräder mehr. Die überall noch vorhandenen großzügigen Zweiradspuren, an denen der ADFC seine helle Freude hätte, sind längst nicht mehr so voll wie 2007 und werden, wo immer möglich, von den Autos in Beschlag genommen. Die Gefährdung der verbliebenen Roller- und Fahrradfahrer hat gewaltig zugenommen. Dass sich unter den Autos mehr und mehr übermotorisierte Zeitzeugnisse wie westliche, insbes. deutsche "Geländewagen" befinden, erschwert den Normalbürgern das Überleben zusätzlich.
Abgerundet wird das erste oberflächliche Bild durch einen weiteren Eindruck: Die Einwohner von Shanghai sind in den letzten 9 Jahren gefühlt 9 Jahre älter geworden. Und sie sind - wegen der Aufgabe des Radfahrens? - deutlich fetter geworden. Nur die wenigen jungen Frauen sind noch so schlank, wie es in meiner Erinnerung früher fast alle Leute waren. Traurigerweise gibt es nun auch fette Kinder und Jugendliche.
Auf zu Brüderchen, in eine Wohnanlage, in der viele Neureiche und Westler wohnen. Die Immobilienpreise und Mieten sind irrsinnig. Eine mittelmäßig schäbige Wohnung kostet 1,5 Mio Euro und dafür erwirbt man noch nicht einmal einen echten Eigentumstitel im rechtsstaatlichen Sinne, sondern nur eine Art verkrüppeltes Erbbaurecht von sozialistischen Gnaden. Eine Monatsmiete für besagte leicht schäbige Wohnung kostet EUR 2.000,-. Wer das nicht von der Firma bezahlt bekommt, kann auch als Westler mit normalem Verdienst nicht in Shanghai existieren.
Blick auf Pudong. Bei gutem Wetter und wenig Smog kann man in 8km Entfernung die vier signifikanten Hochhäuser von Pudong sehen:
1 = Shanghai Center, 2 = Shanghai Financial Center, 3 = Jin Mao Tower, 4 = Pearl Tower.
Die Wohnanlagen sind alle mit Mauern umgeben und Angestellte der Wohnungsverwaltung "bewachen" alle Ein- und Ausgänge. Leider ist damit fast keine Sicherheitsfunktion verbunden, weil niemand wirklich kontrolliert wird. Die "gated community" wird nur aus optischen Gründen und zur Rechtfertigung der hohen Preise imitiert.
Shanghai
Nun kommen einige Fotos aus Shanghai selbst. Den Anfang machen 2 Bilder aus dem Jing-An-Tempel, der von allen Tempeln, die es in Shanghai noch gibt, den Touristen am meisten ans Herz gelegt wird. Es gibt besinnlichere Tempelanlagen, dennoch ist der Jing-An immer noch ein Ort der Ruhe und ein Kontrapunkt zu Hochhäusern und Straßenverkehr. Die Bilder haben das (zufällig, ich bin der mieseste Fotograf Eurasiens) recht gut eingefangen.
Die hohe Metallkonstruktion auf dem letzten Bild rechts ist eine Art Opferstock. Betende und Touristen schmeißen hier Münzen rein. Das ist ein ziemliches Gaudium, weil sich die Öffnung, die es zu treffen gilt, in 4m Höhe befindet.
Die zwei kleinen überdachten Metallkisten links davon sind mit Sand gefüllt, in den Tempelbesucher ihre Räucherstäbchen stecken und fertigräuchern lassen können. Es gibt etliche Einheimische, auch Jüngere, die noch Tempel besuchen um dort zu beten, und sich dabei von den Touristen möglichst wenig stören lassen. Gemessen an der Gesamteinwohnerzahl von Shanghai sind es natürlich verschwindend wenige.
Ein Muss für Touristen ist der Yu Yuan (Yu-Garten, 豫å›). Wenn man das Gedrängel rund um den Eingang überlebt hat, eröffnet sich hier tatsächlich auf kleinstem Raum eine ganze Welt von asiatischem Gartenbau. Die Anlage ist so kleinräumig und vielfältig angelegt, dass man nach jeder Biegung wieder mit dem Garten "allein" ist, obwohl sich Massen von Touristen in ihm aufhalten.
Unsere chinesischen Verwandten hatten uns vom Yu Yuan regelrecht abgeraten, aber er hat uns mitsamt den Kindern sehr gut gefallen. OK, es war ein normaler Wochentag...
Nur wenige Schritte abseits der Touristenpfade findet man immer noch ärmere Stadtviertel, die von der ansonsten im gaanz großen Stil betriebenen Stadtplanung in Ruhe gelassen oder einfach übersehen worden sind. Die Bebauung besteht dann oft nur aus 2 Stockwerken. Die Erdgeschosse sind dann immer Läden, die zur Straße hin komplett offen sind. Darin halten sich die Bewohner die meiste Zeit auf. An heißen Tagen schlafen sie oft auf Stühlen auf dem Gehweg.
Die Läden, meist Imbisse mit fragwürdiger Hygiene, sind wenig lukrativ und sichern ihren Betreibern gerade mal die Existenz. Die Miete für diese Immobilien dürfte noch aus kommunistischen Zeiten stammen.
Auf Höhe des ersten Stockwerks zieht sich ein Gewirr von elektrischen Leitungen über alle Fassaden sowie quer über die Straße. Manchmal hängen diese Leitungen so niedrig, dass man sie per Strecksprung berühren könnte. Das ist für den TÜV-verwöhnten Besucher nicht sehr beruhigend.
In Shanghai selbst ist das folgende ein seltenes Bild geworden: Frische Wasserschlangen (ca. 30cm lang) aus dem Plastikeimer, lecker lecker, bardzo smaczny.
Direkt daneben konnte man die frisch filetierten Wasserschlangen in Pfannkuchen eingerollt käuflich erwerben. So viel Mut haben wir aber nicht aufgebracht, obwohl es dieser Spezialität nicht an Frische gefehlt hätte.
Wenige Meter neben den ärmlichen Ladenstraßen findet sich am "Suzhou-Creek" wieder moderner Städtebau.
Bis vor kurzem war der Suzhou-Creek noch eine stinkende Abwasserrinne. Nun ist er komplett saniert und lädt zum Spazierengehen ein - wozu Chinesen aber weder Zeit noch Lust haben.
Lujiazui
Alle Fotos aus Shanghai, mit denen man anlässlich jeden Asienbezugs belästigt wird, enthalten das Hochhaus-Ensemble von 浦东 (Pudong), genauer gesagt von 陆家嘴 (Lujiazui). Pudong ("östlich des (Huang)-Pu") ist ein riesengroßer Stadtteil, der flächenmäßig ein Drittel des gesamten Bezirks Shanghai umfasst.
Sehr empfehlenswert sind Schifffahrten aller Art auf dem Huangpu. Nicht nur hat man von hier aus perfekte Blicke auf den Bund und auf Lujiazui, auch kann man auf dem Fluss angenehmerweise dem schwülen Klima entkommen. Die Billigvariante ist, einfach eine der Fähren zu nehmen, die Teil des öffentlichen Verkehrs sind. Sie kosten unter EUR 2,- pro Überfahrt. Früher waren sie vollgestopft mit Fahrrädern, aber seit die Bürger von Shanghai nicht mehr radfahren, sind die Fähren nur noch schwach besetzt. Drastisch teurer sind die Kreuzfahrten für Touristen. Wir haben für eine Stunde EUR 18,- bezahlt. Diskutabel ist das nur dadurch, dass in China per Gesetz Kinder überall freien Eintritt erhalten müssen. (Aha! Der Ex-AfD-ler in mir erkennt eine gewisse Vorbildfunktion!) Die EUR 18,- verstehen sich also "nur" pro Erwachsenem.
Hier kommen die Eindrücke vom Fluss aus.
Die Qin (sprich "Tschin" oder "Tchin"), von denen China seinen (westlichen!) Namen hat, zeichneten sich gegenüber ihren damaligen Konkurrenten im Kanalbau aus - so der chinesische Staatsgründungsmythos.
Schrägkabelbrücke über den Huangpu
Der Bund. Es gibt im Internet bessere Bilder.
Mündung des Suzhou-Creek in den Huangpu
So sehen die Hochhäuser von Lujiazui von Norden aus.
2007 war der Jin-Mao-Tower (Nr. 2) das höchste Haus von Shanghai. Bereits im Bau war damals das Shanghai Financial Center (Nr. 1), das zum höchsten Haus Asiens werden sollte. Als die Provinzregierung von Shanghai diesen Rekord mit dem Shanghai Center (Nr. 3) ein weiteres Mal toppen wollte, schritt die düpierte Zentralregierung ein. Aus Brandschutzgründen(??!!) darf das eigentlich fertige Gebäude bis heute nicht der Öffentlichkeit übergeben werden.
Vor kurzem stürzte eine Glasplatte aus der Fassade des Shanghai Center auf die Straße und demolierte dabei ein Taxi total. Gottseidank wurde dabei niemand verletzt. Diese Unfälle kommen dank des heutigen weltweiten Irreseins von Städtebauern und Architekten ("modern = Glasfassade, uga uga hurgh!") immer wieder vor.
Der poppigste und meistfotografierte Teilnehmer am Hochhausreigen ist schließlich der "Pearl Tower" (Nr. 4), der als einziger noch dem alten weltweiten Paradigma vom Fernsehturm folgt. Er steht etwas abseits des Dreier-Ensembles, dafür aber direkt am Fluss, was ihn größer und prominenter erscheinen lässt, als er ist.
Bei der Gelegenheit kommt hier noch der Blick vom Financial Center, dem Flaschenöffner-Haus:
Die gleiche Stelle im Querriegel des Flaschenöffners, nun mit unserer lustigen kleinen Reisegruppe. :-)
Hangzhou und Westsee
Mit dem nachgebauten ICE kann man mit bis zu 350km/h in nur einer Stunde von Shanghai nach Hangzhou (æå·ž) rasen. Die Schnellfahrstrecke verläuft komplett auf Betonstelzen. Dieses ganze Land ist eine einzige Betonpumpe! Für den Touristen bietet das den Vorteil, dass er aus den Eisenbahnzügen immer gute Aussicht über die ganze Landschaft hat.
Das nette chinesische Städtchen Hangzhou ist nur so groß wie Berlin und bietet eines der beliebtesten innerchinesischen Tourismus-Ziele: Den Westsee.
Die ganze Küstenregion ist so flach, dass der Unterschied von Wasser und Land fast überall nur eine Spatentiefe beträgt. Das erklärt, warum Kanalbau von Menschenhand in der Antike überhaupt technisch möglich war und es erklärt auch die Entstehung des Westsees: Dieser wurde nämlich größtenteils künstlich angelegt, für die Freizeitgestaltung des damaligen Kaisers.
Seither ist der Westsee nicht nur bei der nationalen Propaganda, sondern auch bei Inlandtouristen, insbesondere bei Hochzeitspaaren, sehr beliebt.
Auf der 1-Yuan-Banknote sind steinerne Artefakte abgebildet, die einst als Pegel und als Fackelhalter (für die kaiserlichen nächtlichen Bootfahrten) gleichzeitig dienten und noch heute an Ort und Stelle im See stehen.
Wir ließen uns sehr gemütlich zu diesen historischen Steinen paddeln. Die Boote, die den Touristen dafür inklusive Bootsführer zur Verfügung stehen, sind überdacht und fassen 4-6 Personen. Sie haben nur ein einziges Ruder, das am Heck des Bootes hin und her bewegt und dabei gedreht wird. Auf diese Weise kann der Bootsführer im Stehen gleichzeitig lenken, Vortrieb leisten und die Übersicht behalten.
Eine zweite Möglichkeit, den Westsee in Ruhe kennenzulernen, ist das Fahrrad. Auch in Hangzhou fährt kaum noch ein Chinese Rad. Man will ja nicht als arm gelten! Von Touristen ist aber bekannt, dass sie nicht arm sind, ergo können sie sich ohne Gesichtsverlust in den Sattel eines der zahlreichen Mieträder schwingen. Und für Westler gilt, dass sie eh schon Spinner sind, egal was sie tun.
Mit etwas Mühe trieben wir Räder mit Kindersitzen auf und preschten los.
Diesen Blick hat man nur, wenn man sich auf den Nord-Süd-Damm begibt, der den gesamten See teilt. Er ist so schmal, dass er keine Auto-Fahrspuren hergibt, und damit autofrei. Nur extraschmale, batteriebetriebene Touristen-Minibusse mischen ohne Rücksicht auf gegnerische Verluste den Fahrrad- und Fußgängerstrom auf.
Der Damm ist an einigen Stellen von Durchlässen für die einst kaiserlichen und heute profanen Boote durchbrochen. Die Brücklein über diese Durchlässe haben recht steile Auffahrtsrampen, so dass man mit dem Eingangrad etwas Anlauf nehmen muss, wenn man gegenüber den Elektrokarren im Vorteil bleiben will.
Bei aller Idylle aus See, Tempelchen, Parks, Inseln und Dämmen darf man nicht vergessen, dass man sich immer noch nahe des Zentrums einer Millionenstadt befindet. Das Seeufer ist mit Ausnahme der 2 Dämme (außer dem Nord-Süd-Damm git es noch einen zweiten, kürzeren und weniger attraktiven) für Radfahrer gesperrt.
In der Hauptreisezeit ist das sicher sinnvoll, weil sich dann gefühlt eine Milliarde Chinesen um den nur wenige km durchmessenden Westsee drängelt. Jetzt, im Frühsommer, war die Touristendichte gering und sehr angenehm. Leider ist der Uferweg auch jetzt streng bewacht! Will man also den ganzen See per Rad umrunden, sieht man ihn die meiste Zeit nur durch Bebauungslücken und nimmt am stinknormalen Großstadtstraßenverkehr teil.
Was soll's, kein Problem für unsereins...
Der bekannteste Aussichtspunkt über den gesamten See ist die Rekonstruktion der Leifeng-Pagode (雷峰夕照).
Leifeng-Pagode von innen
Die Überreste der alten Leifeng-Pagode (10.Jhdt.) sind eine der Stellen, die von Touristen mit Geld beworfen werden müssen, Heilkraft usw.
Darüber erhebt sich die Stahlkonstruktion der heute sichtbaren Pagode (21.Jhdt.), die man mit Rolltreppe und Lift erklimmen kann:
Eine weitere Seltsamkeit fanden wir während unserer See-Umrundung: Den Merkelpark. Auf der seeabgewandten Seite der Uferstraße erscheint ein riesenhaftes Portal. Dahinter gelangt man über eine Brücke in einen wiederum riesengroßen Park, der teilweise sehr westlich anmutet. Andere Parkteile wirken wiederum asiatisch, dann wieder britisch-kolonial. Historisch ist hier nichts, auch wenn es alles sehr schön anzusehen ist. (Die Frauenstatuen sind weniger nach römischen, sondern eher nach Playboy-Vorbildern modelliert.) Trotz der aufwändigen Gestaltung der gesamten Landschaft ist kaum ein Mensch zu sehen, erst recht keine Reisegruppen. Vereinzelt wird in diesem Park an Gebäuden herumgewerkt. Eine Propagandatafel löst das Rätsel auf: Ganz China freut sich hier auf den G20-Gipfel, der im September nach Hangzhou kommt. In diesem Park sollen also Obama, Merkel und ihre Kollegen demnächst lustwandeln und bedeutungsvolle Gespräche führen. Tja Frau Merkel, wir waren vorher da. In your face!
Wuzhen
In der flachen Landschaft der Küstenregion gibt es für den Besucher mehrere "Wasserdörfer" zu bestaunen. Das waren bis vor kurzem ganz normale Ortschaften, in denen die Flachheit des Geländes dazu genutzt wurde, bis fast an jedes einelne Haus kleine Kanäle zu legen. Abwasserentsorgung, Bootsverkehr und Fischfang standen so der Bevölkerung zur Verfügung. Diese Funktionen spielen heute in den touristisch genutzten Wasserdörfern fast keine Rolle mehr.
Eines der bekanntesten Wasserdörfer, in diesem Fall eine Stadt, ist Wuzhen, das man von Hangzhou oder Shanghai aus leicht erreichen kann. Diese gute Erreichbarkeit kam nicht nur uns, sondern auch ein paar gefühlten Millionen von Inlandstouristen zugute, die einen chinesischen Feiertag mit verlängertem Wochenende ebendort verbrachten.
Abends ist es in Wuzhen besonders romantisch und das Touristengedrängel erreicht seinen Höhepunkt:
Was wird man wohl außerhalb der umzäunten und eintrittspflichtigen Touristenzone zu sehen bekommen?
Wuzhen ist so weit von den Großstädten entfernt, dass es von Landflucht betroffen scheint. Die älteren Häuser sind oft unbewohnt, manchmal sind es schon Ruinen. Wenn ein Haus bewohnt ist, dann von Familien aus vielen alten Leuten und nur wenig Nachwuchs. Die erst kürzlich erfolgte Aufhebung der 1-Kind-Politik kommt für viele Familien in China zu spät. Unrealistische Vorstellungen von Partnerschaft, die das Fernsehen vermittelt, sowie Männerüberschuss verschärfen das Problem zusätzlich. China steht der gleiche demografische Absturz bevor, wie Deutschland ihn (abzüglich Einwanderung) schon hat, und in Orten wie Wuzhen kann man ihn schon erahnen.
Dishui-See und Yangshan
Im äußersten Südosten von Shanghai befindet sich die Retortenstadt am Dishui-See. Aus Shanghai fährt man eine volle Stunde mit der S-Bahn hierher. Auch diese Bahn verläuft fast komplett als Hochbahn auf einer aufgeständerten Trasse.
Ein künstlicher, kreisrunder See mit 3km Durchmesser bildet das Entwicklungszentrum des ambitionierten Städtebauprojekts. Darum herum findet sich ein Netz aus Bürohäusern, in denen kein Betrieb ist und achtspurigen Straßen, auf denen keiner fährt. Man kann dem Projekt nur wünschen, dass es so weit von Shanghai entfernt seine Bevölkerung noch findet.
Hier ist die Stadtregierung zu Hause:
Die große Überschrift, unter der die neue Stadt am Dishui-See steht, lautet "Internationale Schifffahrt!". Die Verwaltung der chinesischen zivilen Schifffahrts-Aktivitäten und -Regulierungen soll in diese Stadt umziehen und dort für Leben sorgen. Bisher ist das allenfalls in Anfängen passiert.
Einer dieser Anfänge ist so unfreiwillig sozialistisch-komisch, dass wir ihn unbedingt eigens besichtigen mussten: Das "China Maritime Museum" (i.F. CMM). Äußerlich sieht es so aus, als würde ausgerechnet im fernen China noch der Geist des NS-Architekten Albert Speer umgehen:
Angesichts der totalen Menschenleere rund um das riesenhafte Gebäude dachte ich schon, dass wir die einzigen Besucher werden. Ganz so krass war es dann nicht. Außer uns waren insgesamt vielleicht ein Dutzend Menschen da, die keine Museumsangestellten waren. Diese Angestellten wiederum waren halbtot vor Langeweile. Die Kartenabreißer stürzten sich auf uns, wie ein Adler auf seine Beute: Endlich Bewegung! So geht's, wenn man die hochbezahlte Langeweile des Staatsdienstes der Unsicherheit in der freien Wirtschaft (auch als "Freiheit" bekannt) vorzieht. Von mir also kein Mitleid. Die Erinnerung an Chinesen, die sich in Miniläden und Imbissen tummeln, und dabei fröhlich sind, ist noch zu frisch.
Innerhalb des Gebäudes könnte nun eine Vielzahl von Exponaten behaust werden. Aber nein, im Wesentlichen wird nur eine Sache ausgestellt: Ein Nachbau der Dschunke des teilweise sagenhaften Zheng He. Zheng He war nicht nur im 15. Jahrhundert ein bedeutender Seefahrt-Pionier, er ist auch heute eine zentrale Figur in chinesischem Nationalbewusstsein und Propaganda. Es gibt Chinesen, die wissen, dass Zheng He nicht nur vor Kolumbus in Amerika war, sondern darüberhinaus auch Australien und gar die Antarktis erreicht hat. Historiker sprechen eher von Indonesien, Indien, Arabien und Ostafrika - was auch schon sehr bemerkenswert ist und den Grundstein für eine Weltmacht China hätte legen können, wenn die damaligen Kaiser nicht das Interesse an solchen Fahrten verloren hätten.
Ich bin kein Seefahrt-Profi, aber der Nachbau im CMM scheint mir stark phantasiebasiert zu sein. Die Segelfläche ist winzig, ein Kiel kaum vorhanden, es gibt zwar Ruder, aber viel zu wenige und zu klein. Der Umstand, dass Zheng He auf dem Weltmeer klugerweise stets mit einer Vielzahl von Schiffen unterwegs war, ist komplett unberücksichtigt.
Um das zentrale nationale Monument herum finden sich einige Schiffsmodelle. Ein echtes "Schiff" gibt es auch: Ein kleines Plastikboot, welches anlässlich der Expo 2010 auf dem Huangpu als Fahnenträger diente, steht da. Das oberste Stockwerk des Gebäudes ist dann komplett leer.
Wenn man nach dem CMM urteilte, dann wäre China eine große Seefahrernation wie Bolivien oder Österreich. Das ist schade, denn in Wirklichkeit spielt die Seeschiffahrt in und um China sehr wohl eine große Rolle. Jeder weiß, dass China der größte Güterexporteur der Welt ist und dass sich dieser Export hauptsächlich über die Hochseeschifffahrt abspielt. Die chinesischen Werften sind Weltmarktführer und die Reederei COSCO ist eine der größten der Welt.
Nur wenige Kilometer von hier findet sich ein weiteres offensichtliches Beispiel für die tatsächliche Größe der chinesischen Seefahrt: Der Tiefwasserhafen von Yangshan.
Yangshan (æ´‹å±±) war mal eine Handvoll kleiner Felseninseln im Pazifik, ca. 30km von der Küste entfernt. Die Felsen sind auch heute sehr schön um darauf herumzukrabbeln und den Blick auf das Meer zu genießen. Sie sind auch für Touristen gut zugänglich gemacht.
Zwischen den Felseninseln ist nun Land aufgeschüttet und weitläufige Hafenanlagen sind entstanden.
Zur Hafeninsel Yangshan fährt man nicht mit dem Schiff, sondern mit dem Auto. Eine 30km lange Hochbrücke, aus deren Beton man einen mittelgroßen Asteroiden formen könnte, verbindet die einst idyllische Pazifikinsel mit dem Festland. Auf den vier bis sechs Fahrspuren dieser Brücke sollte sich laut Planung wohl eine einzige Schlange von Lastwagen reihen, davon ist heute aber nichts zu sehen. Entweder wird der ganze Feeder-Verkehr von und nach Yangshan durch die Binnen- und Küstenschiffe erledigt, oder das ganze Projekt ist eine Fehlinvestition.
Heimreise. Die erste Etappe nach Frankfurt wurde dabei in einem A380 der Lufthansa zurückgelegt. Mäßiges Essen, aber tolles Flugzeug. Der Flughafen Shanghai-Pudong (PVG) liegt direkt am Meer. Der blaue Streifen im Hintergrund ist also tatsächlich der Pazifik.
Schade, dass man nicht immer Urlaub haben kann. Es gäbe noch viel zu sehen.
* * *
Kommentare
#1 von "Peter Wellenhofer": | 2016-06-27 16:37 |
Eigene Tradition nach regelmäßigen Chinareisen und Empfehlung: Zur Vorbeugung gegen heftige Entzugserscheinungen: Chinesischer Feuertopf bei Fire Dragon in der Paul Heyse Straße. Kürzlicher Kommentar meiner chinesischen Frau, weil überdurchschnittlich viele Deutsche Gäste anwesend waren: "Heute sind aber viele Ausländer da!"
Nächste Chinareise unbedingt nach Qingdao mit seinen gepflegten baulichen und alkoholischen (TsinTao-Bier)Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit. Es gibt nur gute Erinnerungen und der Stolz ein bisschen deutscher zu sein als der Rest. Ja, das gibt`s noch - in China!
#2 von "Gudrun Carius": | 2016-06-27 23:01 |
#3 von "Johann Vetter": | 2016-06-28 07:42 |
ein schöner, informativer mit ziemlichem Aufwand verbundener Bericht.
Danke.
Viele Grüße
Johann Vetter
#4 von "Adam Schmidt": | 2016-06-28 20:48 |
#5 von "Vera": | 2016-07-17 20:00 |
#6 von "Juergen": | 2016-07-18 15:26 |
Gudrun, unser Haus steht Euch offen!
Mein Kommentar dazu: